Seit einem Jahr befindet sich die Welt im Ausnahmezustand. Die aktuell immer noch wütende Pandemie hat eine veritable globale Krise ausgelöst, deren Dramatik u.a. Verlust von Normalität auf allen Ebenen – auch der wissenschaftlichen – ausmacht. Dabei haben wir es fast mit einer realisierten Metapher zu tun: Der deutsche Begriff Krise wurde/ist dem lateinischen Wort crisis entlehnt und bezog sich ursprünglich auf eine febrile Krankheitsphase als eine Wende, die bei einem glücklichen Verlauf zur endgültigen Krankheitsabwehr führte. In diesem Sinne steht auch die jetzige Krise für den unbekannten Ausgang, auf den angesichts des rasant schnell erfundenen Impfstoffes nun mit großer Hoffnung geblickt wird.
Allerdings haben die pandemischen Zustände auch andere Krisen, die sich seit Jahren abgezeichnet bzw. entwickelt haben, verschärft. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die um 2007 begann und von der sich die Welt vor der Pandemie zu erholen schien, droht als massive Rezession neuerlich zu eskalieren. Zudem verschärft sich die Kluft zwischen Reich und Arm, was zu einschneidenden Ungerechtigkeiten und Konflikten führt, die wiederum Migrationsbewegungen potenzieren, deren Ausmaß als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird. Die verstärkt massenhafte Flucht geht aber nicht nur auf die Pauperisierung vieler Weltregionen zurück, sondern resultiert auch aus – oft religiös-fundamentalistischen – Bürgerkriegen sowie aus den verheerenden Auswirkungen der weltweiten Klimakrise. Auch wenn Covid-bedingte Entschleunigung und Selbstisolation der Menschen die folgenschwere CO₂-Emissionen 2020 etwas verminderten und den umweltzerstörenden Massentourismus hemmten, ist der Klimawandel nicht nur längst nicht überwunden, sondern es werden auch die Folgen der globalen Erwärmung für die Erde immer spürbarer. Mit den weltweiten Naturkatastrophen geht also ein umfassendes gesellschaftliches Desaster einher.
Vielerorts gerät zeitgleich die Demokratie ins Wanken, ein populistischer Rechtsruck breitet sich auch in den vermeintlichen Bastionen der Demokratie aus. Zunehmend nationalistische Tendenzen in der Weltpolitik schüren Intoleranz und Hass gegenüber ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten und forcieren misogyne und anti-intellektuelle Stimmungen. Zum Signum des Populismus wird die/der sich immer stärker radikalisierende ‚hate speech‘ (Hass-Sprech). Diese Verwahrlosung und Brutalisierung der Sprache ist nicht nur in den sog. Sozialen Medien längst und weit verbreitet, sondern wird auch in der politischen Öffentlichkeit und Auseinandersetzung immer salonfähiger.
Last but not least betrifft die Krise auch die Geisteswissenschaften, die infolge von Einsparungen und Umstrukturierungen mit existentiellen Infragestellungen und Herausforderungen konfrontiert wird, welche oft widersinnige Flexibilität/Anpassungs-Kompetenzen abverlangen. Freiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaften und Lehre sowie deren Institutionen werden dadurch ebenso gefährdet wie das von Sanktionen bedrohte und damit finanziell oder politisch gegängelte kulturelle Schaffen.
Zweifellos und folglich leben wir in einer stark krisengeschüttelten Gegenwart. Doch mit der Krise geht nicht nur ein desaströser, demotivierender Prozess einher. Als Zäsur liegt ihr auch ein kritisches, vielleicht gar transformierendes, kreativ-widerständiges Potential zugrunde. Diese Bedeutung ist bereits in dem griechischen Wort krinein (‚scheiden‘, ‚auswählen‘, ‚beurteilen‘, ‚entscheiden‘; ‚sich messen‘, ‚streiten‘, ‚kämpfen‘) verankert, das (objektive) Krise mit (subjektiver) kritischer Reflexion verbindet.
Die geplante Tagung soll einen Überblick zu dem sich seit Einbruch der Pandemie größer gewordenen Spektrum von Krisen(-Reflexionen) ermöglichen und – Atem schöpfend – zu Analysen und Ausblicken ermuntern. Willkommen sind dazu Beiträge aus allen Teildisziplinen des Faches, d.h. literatur- und kulturwissenschaftliche ebenso wie sprachwissenschaftliche, gender- und/oder komparatistisch ausgerichtete, aber auch solche mit fachdidaktischem Fokus. Denkbar sind z.B. Fragestellungen zu folgenden Aspekten:
- Bedeutungsspektren des Begriffs Krise
- (Re-)Präsentationen und Indikatoren der Krise in Literatur und anderen Medien (Theater, Film, Comic etc.)
- Potenzierung in der Darstellung von Krise(n)
- Krise und Sprachveränderungen, Krisenvokabular
- hate speech als Sprachinstrument von Krise(n)
- politisches Potential der Krise, Krise als Transformationschance
- Krise (in) den Geisteswissenschaften
Der Fragenkatalog ist selbstverständlich offen und weitere detaillierte Themen sind ebenso erwünscht.
Geplant wird eine Präsenztagung, die ggf. in hybrider Form oder zu einem späteren Termin stattfindet. Zur Teilnahme sind nicht nur österreichische und polnische Germanist*innen und Kulturwissenschaftler*innen eingeladen.
Einen Themenvorschlag mit einem kurzen Exposé und einer Kurzbiografie erwarten wir bis Ende Mai 2021 an artur.pelka@uni.lodz.pl
Es wird keine Tagungsgebühr erhoben. Eine Teilerstattung von Übernachtungs- und Verpflegungskostenkosten wird beantragt. Geplant ist eine Veröffentlichung der Beiträge in einer wissenschaftlichen Zeitschrift.
Tagungsveranstalter*innen:
Prof. Joanna Jabłkowska (Łódź)
Univ.-Prof. Artur Pełka (Łódź)
Dr. Kalina Kupczyńska (Łódź)